Das Alte Rathaus wurde bereits 1552 errichtet, die Jahreszahl wurde damals eingemeißelt und ist noch gut erkennbar.
Gemeindearchivar Günter Körner kann viel erzählen zu diesem ältesten Rathaus der Region. Hier ein Bericht aus der örtlichen Presse über einen Vortrag zum Thema:
Geschichten rund um das Alte Rathaus in Birkenau, die Zeitgeschichte erzählen, bescherten dem Kulturverein einen gefüllten Saal, in ebenjenem Gebäude, dessen Historie am Mittwochabend im Mittelpunkt stand. Die stellvertretende Vorsitzende des Kulturvereins, Renate Reinhard, begrüßte die Zuhörer zur abschließenden Veranstaltung des Vereins im Jahr 2019 – einem Vortrag von Birkenaus Gemeindearchivar Günter Körner. Körner hatte in vielen Jahren etliche historische Dokumente gesichtet, viele davon im Wamboltschen Archiv, und ging auf Ereignisse ein, die als Beispiele Einblicke in das Leben der Birkenauer in den vergangenen sechs Jahrhunderten gaben.
Der Vorgänger des Rathauses, das Mitte des 16. Jahrhunderts erbaut wurde und eines der ältesten der Region ist, sei vermutlich ein Zehnthaus gewesen, sagte Körner und ging auf das damals herrschende vom Feudalismus geprägte Gesellschaftssystem ein.
Das Zehnthaus war nicht nur der Ort, an dem die Abgaben der Bevölkerung an den Feudalherrscher verwaltet wurden und ab und an auch die Geselligkeit im Mittelpunkt stand. Es war auch ein Ort der Rechtsprechung, wovon der heute noch erhaltene Pranger kündet. Aber auch eine Gefängniszelle wurde im ersten Stock des Alten Rathauses vorgehalten. Diese sei mitnichten als langfristiger Aufenthaltsort von Gefangenen gedacht gewesen.
Die Strafen, die im Mittelalter an diesem Ort für die Vergehen der rund 500 damals in Birkenau und Umgebung lebenden Menschen zugemessen wurden, waren schließlich drakonischer als Freiheitsentzug. Körner berichtete von etlichen Dokumenten über solche Fälle, wie zum Beispiel den Fall des Fischdiebes Nikolas Balschbach. Der hatte ohne die nötige Erlaubnis Fische aus der Weschnitz gefangen und bekam am alten Pranger, der am Ortsausgang Richtung Weinheim gelegen war, zur Strafe ein Ohr abgeschnitten. Von seiner Ergreifung bis zum Urteil fristete er die Zeit in der Zelle des Rathauses – ebenso wie Agnes und Katharina Erhard, denen ein noch schlimmeres Schicksal bevorstand.
Die Mutter und die Tochter wurden ebenfalls in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts aufgrund der Ermordung zweier Neugeborener nach ungewollter Schwangerschaft enthauptet. Vor ihrer Hinrichtung waren sie ebenfalls im Alten Rathaus inhaftiert.
Die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, aufgrund dessen die Bevölkerung von Birkenau an der Grenze zwischen Kurmainz und Kurpfalz von 300 auf nur noch 50 Menschen dezimiert war, stand dann genauso im Mittelpunkt des Vortrags wie die traurige Bedeutung des Alten Rathauses in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Schließlich wurden hierher auf Befehl des NS-Regimes die in Birkenau lebenden Menschen jüdischen Glaubens vor ihrer Deportation gebracht. Dem Vormarsch der Alliierten wäre das Gebäude um ein Haar in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen. Schließlich hatten einige Birkenauer Bürger Schwerholz aus einem Bahnwagen auf den Bahnübergang als Barrikade gebracht, um den Vormarsch der Truppen in Richtung Überwald zu verhindern. Die angedrohte Sprengung der Barrikade hätte das Gebäude ebenfalls zerstört. Dem beherzten Eingreifen Besonnener sei es an diesem Tag zu verdanken gewesen, dass das Gebäude auch die Wirren der Geschichte bis heute überstanden hat.
Der Vortrag „Geschichten und Geschichte des Alten Rathauses“ gab Gelegenheit, einen sorgfältig recherchierten und kurzweilig vorgetragenen Einblick in die Historie vor der eigenen Haustür zu nehmen und an diesen Beispielen die Auswirkungen der Weltgeschichte auf die Lebenswirklichkeit der Vorfahren zu erfahren. uf
​
Quelle: Weinheimer Nachrichten / Odenwälder Zeitung vom 6.12.2019 unter dem Titel "Auch ein Ort der Rechtsprechung" Bericht über einen Vortrag von Günter Körner.
​
Weitere Informationen findet man im Jubiläumsbuch "1200 Jahre Birkenau" ab Seite 195.